Christian Kollross
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Liebe Scouts et Guides de France, es ist Zeit ...

Hinweis: Dies ist die deutsche Übersetzung, das Original erschien auf Französisch.

Liebe SGDF1, ich war jetzt drei Jahre lang Pfadileiter2 bei euch. In Deutschland habe ich davor 9 Jahre lang Wölflinge3 bei der DPSG4 geleitet. Die DPSG ist so etwas wie die Schwesterorganisation der SGDF. Zusammen gehen die SGDF und die DPSG jedes Jahr segeln5 und Ski fahren6, organisiert von einem Komitee namens DPSGDF. Die beiden Organisationen unterscheiden sich also nicht allzu sehr. Allerdings ist mir ein wichtiger Unterschied aufgefallen: Während die DPSG sich in den letzten Jahren für die Integration von LGBTQIA+-Personen stark gemacht hat, habe ich den Eindruck, dass die SGDF noch … zögern.

Für mich ging es bei den Pfadfindern schon immer um Akzeptanz und Gleichberechtigung. Beim ersten Lager auf Brownsea Island vereinte Baden-Powell Jugendliche aus verschiedenen Gesellschaftsschichten. Er hätte wahrscheinlich mit einigen Personengruppen, die wir heute akzeptieren, ein Problem gehabt, aber man darf nicht vergessen, dass dieses Lager 11 Jahre vor dem Wahlrecht für Frauen in Großbritannien stattfand. Man hört oft, dass die SGDF “nicht politisch sind". Im Gegenteil, Pfadfinderei war von Anfang an politisch.

Ich weiß zwar, dass die SGDF offen für alle sind, aber ich habe auch Beispiele, Diskussionen und persönliche Berichte gesehen, die zeigen, dass diese Akzeptanz eher theoretisch ist und in der Umsetzung stark vom Willen der Leiter und Vorstände abhängt.

Damit ihr euch vorstellen könnt, wie eine mögliche Zukunft aussehen kann, zeige ich euch, was man in einer katholischen Jugendbewegung alles bewegen kann, ohne dass einem gleich der Himmel auf den Kopf fällt7.

Geschlechtergerechtigkeit in der DPSG

Betrachten wir einmal die relevanten Beschlüsse der Bundesversammlung im vergangenen Jahrzehnt:

2012

  • Antrag auf neues Positionspapier Geschlechtergerechtigkeit
  • Auftrag zur Erstellung von Arbeitshilfe mit praktischen Methoden zum Thema Sexualität

2013

  • Neues Positionspapier Geschlechtergerechtigkeit
  • Unterstützung der Forderung nach der Öffnung des Diakonats für Frauen

2015

  • Grußwort des Bundesvorsitzenden des BDKJ: “Im Sinne der jungen Menschen seien verbindliche Partnerschaften auch im Vorfeld einer Ehe, ebenso wie gleichgeschlechtliche Partnerschaften, in der Kirche höher wertzuschätzen und nicht weiter zu diskriminieren.”

2018

  • Auftrag zur Einrichtung einer Arbeitsgruppe zu den Themen Sexuelle Vielfalt und Geschlechtergerechtigkeit in der DPSG

2019

  • Neues Menschenbild, beinhaltet unter Anderem: “[Pfadfinder*innen] sind tolerant und offen gegenüber […] Menschen jeden Geschlechts […] und unterschiedlicher sexueller Orientierungen.”

2020

  • Entscheidung der Jahresaktion 2022: “Farbfinden - Von Natur aus Bunt”
  • Positionspapier zur Geschlechtergerechtigkeit und sexuellen Vielfalt
  • Anpassung der Formulierungen in den Veröffentlichungen der DPSG Bundesebene; aus “Leiterinnen und Leiter” wird “Leiter*innen” etc.
  • Änderung der Regel für Bundes- und Diôzesanvorstände von “Mann, Frau und Kurat” zu “Zwei Personen unterschiedlicher Geschlechtsidentität und ein Kurat”

2021

  • Anpassung der Formulierungen in den Satzungen und Anhängen auf allen Ebenen sowie Geschäfts- und Wahlordnung auf Bundesebene; aus “Leiterinnen und Leiter" wird “Leiter*innen” etc.
  • Magazine “Zeltgeflüster” und “Querfeldein” 3/2021 sind dem Regenbogenthema gewidmet; Titelthemen: : “LGBTQ* weltweit” / “Safer Spaces für jeden” / “CSD - laut, bunt & Pfadfinderinnen ?!” / “Das Recht am eigenen Körper”

2022

  • Jahresaktion : “Farbfinden - Von Natur aus Bunt”
  • Neue Option “divers” zusätzlich zu “männlich” und “weiblich” in der Mitgliederverwaltung, ähnlich der 2018 von Deutschland eingeführten Regelung.

Cover der Zeitschriften “Querfeldein” und “Zeltgeflüster” Urheberrecht der Magazine: Deutsche Pfadfinderschaft Sankt Georg

All diese Diskussionen und Überlegungen zum Thema, die getroffenen Entscheidungen und die erfolgten Veröffentlichungen haben der DPSG nicht geschadet, sondern ihr Profil als eine Bewegung, die wirklich für alle offen ist, geschärft.


40. Weltpfadfinderkonferenz 2014 in Ljubljana, 8
Dokument 6 der Konferenz, “Strategy for Scouting - Vision 2023”, Seite 8 :

Strategische Priorität: Die Pfadfinderei soll die Gesellschaft, in der sie existiert, widerspiegeln und aktiv daran arbeiten, alle Menschen ohne Unterscheidung willkommen heißen. Diese Vielfalt soll sich nicht nur in den Mitgliedern widerspiegeln, sondern auch in den genutzten Programmen und Methoden.


Kehren wir nach Frankreich zurück. Im September 2021 hat das Ministerium für Bildung und Jugend das Rundschreiben Nr. 36 veröffentlicht, in dem die Integration von Transgender-Schülern erläutert, geregelt und angeleitet wird. Die nationale Gesundheitsbehörde hat 2022 ihre Plakatkampagne gegen Diskriminierung und Gewalt gegen LGBTQ*-Personen neu aufgelegt. Aus meinen Interaktionen mit jungen französischen Leitern habe ich den Eindruck, dass das Thema für sie keine Frage mehr ist. Im Frühjahr endete eine Petition “Für eine effektive Inklusion von LGBT+-Personen bei den SGDF” mit 251 Unterschriften (33 % der auf der SGDF-Petitionsplattform insgesamt abgegebenen Unterschriften). Ihr nehmt an der Gay Pride teil. Und wie die letzte Präsidentin der SGDF in ihrer Abschiedsrede sagte: “Wenn das LGBT-Thema Fragen aufwirft, wie wir Integration nicht nur leben können, sondern es auch klar und deutlich in die Welt rufen können, […], dann werden wir nicht nur sagen, dass wir für alle offen sind, wir werden es ganz konkret leben.”

Im Grunde sind die Scouts et Guides de France bereit.

Einzig an der öffentlichen Sichtbarkeit und Positionierung fehlt es noch. Und dort mangelt es wirklich. Schließlich sind LGBTQ*-Personen kein theoretisches Thema. Es sind Leiter, Kinder und Jugendliche, die heute in eurer Gruppe, in eurem Bezirk leben. Und es gibt sie auch da draußen, in der Gesellschaft, wo sie vielleicht befürchten, dass sie von diesem katholischen Jugendverband mit all seinen konservativen Assoziationen nicht akzeptiert werden. Zeigt, dass auch sie akzeptiert werden. Es muss zumindest eine Debatte in Gang gesetzt werden, um eine Entscheidung zu treffen. Und ja, es wird Artikel in Valeurs Actuelles, La Croix und Le Salon Beige geben. Die sind es aber nicht, die über den Weg der SGDF entscheiden.

Das ist eure Aufgabe!

Falls ihr diesen Denkanreiz ohne großes Nachdenken verwerfen möchtet, dann verwendet einfach das Argument, dass ich ein Atheist bin. Das ist auch einer der Gründe, warum ich mich an “euch” wende und nicht von “wir” spreche: Nach all der Integration bei euch bleibe ich doch einer, der von außen kommt. Ich kann euch das Thema nur anbieten. Es liegt an jede*r*m von euch, es selbst in die Hand zu nehmen.


  1. SGDF: Scouts et Guides de France, größter fransösischer Pfadfinderverband, katholisch ↩︎

  2. Die Pfadfinderstufe (“Pionniers / Caravelles”) bei den SGDF ist für Jugendliche im Alter von 14 bis 18 Jahren ↩︎

  3. Die Wölflingsstufe bei der DPSG ist für Kinder im Alter von 6 bis 10 Jahren ↩︎

  4. DPSG: Deutsche Pfadfinderschaft Sankt Georg, größter deutscher Pfadfinderverband, katholisch ↩︎

  5. SegelLangue, eine Woche Segeln auf der Ostsee ↩︎

  6. LinguiSki, eine Woche Skifahren in den französischen Alpen rund um den Jahreswechsel ↩︎

  7. … beim Teutates! ↩︎

  8. Leider wurden im Juli oder August 2022 die Dokumente von den bisherigen URLs entfernt, daher sind sie nicht verlinkt. ↩︎